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Jean Houel auf Stromboli

Künstler und Naturforscher in Personalunion

Bis zum heutigen Tage gelten die Liparischen Inseln – nördlich von Sizilien im Tyrrhenischen Meer gelegen – eher als ein Geheimtip; trotzdem sie mit einer „sensationellen“ Sehenswürdigkeit aufwarten können: Der Stromboli auf der gleichnamigen Insel – ein permanent aktiver Vulkan mit nahezu täglichen Eruptionen! Ungeachtet der relativen „europäischen Randlage“ sind die Liparischen Inseln für den modernen Reisenden mit den geeigneten Verkehrsmitteln problemlos zu erreichen. Kann nun dergestalt ein Reisender aus der Gegenwart die ihm gestellte Frage, wozu er denn auf die Liparischen Inseln im allgemeinen, bzw. nach Stromboli im besonderen, reise, zumindest teilweise mit den Argumenten „Spektakel“ und „angemessener Aufwand“ beantworten, so würde dieselbe Frage, knapp 250 Jahre früher formuliert, ihren Adressaten möglicherweise in Argumentationsschwierigkeiten bringen! War doch eine Reise über die Ewige Stadt Rom hinaus – traditionell Abschluß der seit dem 17. Jahrhundert praktizierten klassischen „Kavalierstour“ –, in jedem Falle aber über Neapel hinaus, nach Apulien, Kalabrien oder gar Sizilien, ein gewagtes Unternehmen: grassierende Straßenräuberei und das völlige Fehlen dessen, was man heute als „touristische Infrastruktur“ bezeichnen würde, verliehen einer solchen Unternehmung Expeditionscharakter.

Einer der Reisenden, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts dieses Wagnis unternahmen, war der Franzose Jean Pierre Laurent Houel (geboren 1735 in Rouen, gestorben 1813 in Paris), Maler, Architekt und Kupferstecher, der Sizilien und dessen kleinere Nachbarinseln von 1776 bis 1779 – über drei Jahre lang! – bereiste, und über diese Reise in einem vierbändigen, reich mit Kupferstichen illustrierten Werk berichtete: Die „VOYAGE PITTORESQUE DES ISLES DE SICILE, DE MALTE ET DE LIPARI …“ erschien zwischen 1782 und 1787. – Fragen wir Houel einfach: Was wollte er da? Und lassen ihn selbst antworten: „Sizilien ist in der Tat eines der Länder Europas“, schreibt Houel in seiner Vorrede zur „Voyage Pittoresque“ 1782, „welches mit am meisten sehenswert und würdig ist, ausführlich und in allen Einzelheiten dargestellt zu werden. Seit einigen Jahren nun vermochte es endlich die Aufmerksamkeit der Reisenden zu erlangen.“  1

Der Verfasser detailliert des weiteren sein bereits aus dem Untertitel seines Werkes hervorgehendes Interesse, neben den „Denkmälern aus der Antike“ – vornehmlich der Zugehörigkeit Siziliens zur „Magna Graecia“ entstammend – auch „die wesentlichen Naturphänomene“, sowie „Tracht und Brauchtum“ der Bevölkerung darzulegen. – Wobei, so wird im Verlaufe der Texte deutlich, der entschieden aufklärerisch gesinnte Houel unter „Brauchtum“ auch eine beschreibende Analyse des „sizilianischen Nationalcharakters“ versteht: er vermeidet es dabei zwar, Verwahrlosung, Unbildung und Aberglauben zu beschönigen, nimmt aber das Volk grundsätzlich gegen Kirche und Klerus vehement in Schutz, deren Mißwirtschaft und Ausbeutung die Ressourcen des Landes verschwendeten und die Hauptursache für die Rückständigkeit bildeten – eine kritische Einstellung, die auf diesem Feld auch durch seinen Kontakt mit dem antiklerikalen Enzyklopädisten Denis Diderot (1713 – 1784) gewachsen sein dürfte.

Nun steht Houel mit dem Interesse an und der Anteilnahme für die Antike in seiner Zeit keineswegs allein – dieses hatte geradezu „Konjunktur“: zum einen war es ein Kennzeichen der Aufklärung, den Menschen in seiner Geschichtlichkeit wahrzunehmen und zu erfahren; und zum anderen wurden die politischen Verhältnisse im antiken Griechenland – in den Augen der Zeitgenossen verkörpert in den insbesondere auf Sizilien zahlreich vorhandenen Relikten – zu einem Idealtypus konstruiert, an dessen Wiederbelebung bzw. Wiedererrichtung die gegenwärtigen Zustände genesen sollten. Vor allem in Deutschland beschäftigte man sich – bis weit ins 19. Jahrhundert hinein – mit der Rezeption des griechischen Erbes; und vor diesem Hintergrund ist es auch zu sehen, daß ab 1797 eine deutsche Übersetzung der „Voyage Pittoresque“ Houel’s erschien, angefertigt durch Johann Heinrich Keerl – allerdings überwiegend auf eine Textfassung beschränkt: nur einige wenige der Kupferstiche wurden nachgestochen.

Es darf natürlich nicht außer Acht bleiben, daß Houel’s „Vorrede“, wie solche Vorreden im allgemeinen, auch eine Marketing-Strategie bildete: unglücklicherweise für ihn – auch wenn er dies so nicht formuliert – hatte kaum 10 Jahre zuvor (1773) der Brite Patrick Brydone eine sehr erfolgreiche „Sizilien-Reise“ veröffentlicht; und fast zeitgleich mit Houel’s „Voyage“ erschien in Frankreich selbst das „Konkurrenz-Produkt“ des Jean Claude Richard Abbé de Saint-Non, der zwar der Hauptsache nach das Königreich Neapel behandelte, jedoch einen Band über Sizilien hinzufügte – ohne selbst dort gewesen zu sein: er verwertete die Ergebnisse von ihm entsandter Zeichner, eine durchaus nicht unübliche Praxis.

Hiervon jedenfalls muß und will sich Houel abheben; er muß eine „Nische“ für sein Buch finden, weshalb er seine besondere Eignung für eine authentische und autoptische Reisebeschreibung betont: er spricht Italienisch, verfügt über eine „robuste Gesundheit“ und Ausdauer, und – vor allem – er ist Architekt, er vermag die antiken Monumente fachgerecht auszumessen und maßstabsgetreu aufzuzeichnen – mit anderen Worten: seine Zeichnungen werden, diesen Anspruch erhebt er, unbestreitbar nützlich und lehrreich sein.

Nach der Vorrede beginnt das erste Kapitel der „Voyage Pittoresque“ mit dem Datum der Abreise zum Zweck der Einschiffung: Houel verläßt Paris am 16. März 1776 mit Ziel Marseille. Er erreicht zunächst Neapel, welches er am 12. Mai 1776 „um sechs Uhr des abends“ mit dem Schiff in Richtung Palermo verläßt. Von dort reist er unverzüglich weiter (die Denkmäler der Stadt will er zu einem späteren Zeitpunkt seiner Reise dokumentieren), allerdings nicht ohne sich mit einer Begleitmannschaft zu versehen – „Auf Sizilien reist man niemals ohne Bedeckung“ – und sich in einheimische Tracht zu kleiden, um nicht aufzufallen. Eine weitere Besonderheit des Reisens vor Ort schildert er ebenfalls zu Anfang seines Werkes: da es keinerlei Beherbergungsgewerbe gibt, ist Houel auf ein Netzwerk von Empfehlungsschreiben angewiesen, die ihm sukzessive die Türen von Privathäusern öffnen, wo er entweder direkt logieren kann, oder ihm zumindest ein Quartier vermittelt wird. Dies ist vielleicht der wesentlichste Punkt, in dem sich die Bedingungen der Reise Houel’s 1776 von denen eines heutigen Reisenden unterscheiden: er muß sich, da er existentiell darauf angewiesen ist, auf den intensiven Kontakt mit den Einheimischen einlassen, er kann sich nicht in eine Hotelanlage zurückziehen, wo es ein „Jenseits“ des das Terrain umgebenden Zaunes nicht gibt. Dabei war er, der Fremde, für die Bevölkerung viel „exotischer“ als die Fremden für ihn: seine Ankunft auf Stromboli verursacht einen Volksauflauf; und daß ihm beim Hantieren mit seinen Meßgeräten unterstellt wird, er führe die Handgriffe des Leibhaftigen aus, war alltäglich – nur daß Houel diese Reaktionen eben nicht als „fremdartig“ klassifiziert, sondern rational erklärt mit dem Regiment von Kirche und Klöstern, welche von Unbildung und Aberglauben profitierten und kein Interesse an einer Veränderung hätten.

Houel's Besuch der Liparischen Inseln, im August 1776, beginnt auf der Hauptinsel Lipari, wo er nach Abschluß seiner Erkundungen ungeduldig darauf harrt, endlich zu den Nachbarinseln segeln zu können, jedoch durch ungünstige Winde ans „Gestade gekettet“ bleibt. Schließlich aber ist es soweit; je näher er sich Stromboli vom Meer aus nähert, desto mehr entzückt ihn der Anblick der Insel, die „sich einer Pyramide gleich aus den Fluten erhebt“ – den Vergleich mit der Pyramide wiederholt er, als er den Vulkan, „dessen Gipfel immer von Rauchwolken umgeben ist, so wie ich es wiedergebe“, vom Meer aus mehrfach zeichnet, ein Anblick, der ihn nach eigenem Bekunden begeistert und inspiriert. Offenkundig ist Houel in seinem Element: konnte er sein Erkenntnisinteresse hinsichtlich der antiken Monumente bis dahin auf Sizilien bereits nachhaltig befriedigen, so kommt jetzt sein Wissensdrang hinsichtlich der Naturphänomene zum Tragen. Bevor er mit seinen Begleitern die anstrengende und mühselige Besteigung des Vulkans wagt (der sich fast 1.000 m über Meeresniveau erhebt!), legt er seine grundsätzlichen Auffassungen zur Entstehung des Stromboli dar, welche im großen und ganzen modernem Wissen standhalten: er behält z. B. Recht mit seiner Ansicht, daß der Bergstock des Vulkans zum größeren Teil unter der Meeresoberfläche liege – dies hatte er aus den Hinweisen von Schiffskapitänen über submarine vulkanische Tätigkeit sowie aus der Auskunft der Einheimischen geschlossen, daß das Meer rund um den Berg so tief sei, daß niemand je bisher den Grund habe erreichen können (in der Tat beträgt die Wassertiefe etwas über 2.000 m). – Die Besteigung und Besichtigung des Kraters verursacht selbst bei dem Vernunftmenschen Houel zwiespältige Gefühle: er zählt innerhalb von drei Stunden nicht weniger als 14 Ausbrüche; Lärm, Hitze, Schwefelgestank, fliegende Lava-Geschosse und Bodenerschütterungen an diesem „höllischen Ort“ verlangen ihm, der ja währenddessen ununterbrochen zeichnet, alles ab! Trotz allem vermischen sich bei ihm „Erschrecken“ und „Entzücken über das grandiose und schöne Schauspiel“. Seine Begleiter allerdings empfinden dies durchaus anders und zwingen ihn endlich zum Abstieg. – Insgesamt kann festgehalten werden, daß insbesondere für den Naturforscher Houel der Besuch der Liparischen Inseln und des Stromboli wohl einen der Höhepunkte seiner Reise darstellte.

Zum Abschluß soll noch einmal Rückgriff auf die eingangs angedeuteten Fragestellungen genommen werden: wozu wird eine Reise unternommen, wer reist, und unter welchen Bedingungen? „Das Ziel der Reise (das Ankommen) kann nicht das Ziel der Reise (deren Sinn) sein“ formuliert der – selbst vielgereiste – Publizist Aurel Schmidt und bringt damit ein Hauptproblem des modernen Massentourismus auf den Punkt: nicht alles, was erreichbar ist, macht auch Sinn, erreicht zu werden. Nämlich dann, wenn das „Abhaken“ einer Liste von wirklich oder vermeintlich sehenswerten Punkten auf dem Globus in rascher Abfolge verhindert, daß der Reisende seinen davoneilenden Körper mental überhaupt noch einzuholen vermag. Auf diese Weise kann das scheinbar Nächstliegende unerreichbar werden: das eigene Selbst!

Bezieht man diese Erkenntnis auf das dezidiert formulierte Selbstverständnis des Jean Houel, der genau wußte, was er auf Sizilien wollte, so wird klar, daß beim Reisen ein Faktor entscheidend ist: Die Art und Weise, sich auf das „Fremde“ einzulassen, Vorwissen – soweit vorhanden – unablässig zu verifizieren, nötigenfalls zu modifizieren oder gar zu revidieren, und dabei anzuerkennen, daß auch Kenntnisse und Erfahrungsschatz der ansässigen Bevölkerung, so „ungebildet“ diese im Vergleich zu uns selbst erscheinen mag, es wert sind, ernsthaft und mit Respekt behandelt zu werden.

1 Übersetzung der Zitate aus dem Französischen (kursiv) von der Autorin

Bild von Franz Baumgartner

Literatur

Brenner, Peter J., Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungs-Bericht als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2. Sonderheft, Tübingen 1990

Houel, Jean, VOYAGE PITTORESQUE DES ISLES DE SICILE, DE MALTE ET DE LIPARI, Où l’on traite des Antiquités qui s’y trouvent encore; des principaux Phénomènes que la Nature y offre;du Costume des Habitans, & de quelques Usages. PAR JEAN HOUEL, Peintre du Roi. A PARIS, DE L’IMPRIMERIE DE MONSIEUR. M.DCC.LXXXI. [Erster Band]; benutzt wurde das Exemplar der Oettingen-Wallerstein’schen Bibliothek an der Universität Augsburg.

Keerl, Johann Heinrich, Houels Reisen durch Sizilien, Malta und die Liparischen Inseln. Eine Uebersetzung aus dem großen und kostbaren französischen Originalwerke von J. H. Keerl, Königl. Preuß. Würkl. Regierungs- und Consistorial-Assessor. Mit 5 Kupfern. Gotha, in der Ettingerschen Buchhandlung 1797 [1. Theil].

Schmidt, Aurel, Wege nach unterwegs. Das Ende des Reisens, Zürich 1992

 


Bild von Franz Baumgartner