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Dem Vergessen entrissen

Menschen aus dem Ries und ihre Schicksale

Der ursprüngliche Beweggrund zum Schreiben für die 1943 in Nördlingen im Ries geborene Autorin Lydia Kron-Treu war die Erkenntnis, über ihre Familie und ihre Herkunft so gut wie nichts zu wissen (sie hatte das Ries nach dem Tod ihres Vaters 1958 im Alter von knapp 15 Jahren verlassen). Zunächst für ihre Söhne, beginnt sie ihre Familiengeschichte zu recherchieren; und je mehr sie erfährt, desto mehr leistet sie diese Erinnerungs-Arbeit auch für sich selbst. Die Anteilnahme des Lesers an den Geschehnissen wächst im selben Maß, in dem ihre eigene Betroffenheit mit dem Umfang des Wissens zugenommen hat. Der zeitliche Rahmen des Buches umfaßt die ca. 100 Jahre zwischen 1850 (Geburt des Großvaters väterlicherseits) und den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Geschildert werden, jeweils im Wechsel, Herkunft und Lebensweg der Mutter (geb. 1899) und des Vaters (geb. 1883); beide Erzählstränge vereinigen sich, als die Mutter als Hausgehilfin ins Haus des Witwers kommt, der sie später in zweiter Ehe heiraten wird. Die Erzählung beginnt mit den Lebensverhältnissen der Mutter, gerufen „Mina“, die aus ärmlichsten Verhältnissen stammt. Sie schuftet als Magd; Heiratsmöglichkeiten hat sie, quasi mittellos, keine: „sie hat halt nichts“ – der lakonisch-fatalistische Tonfall, in dem Lydia Kron-Treu derlei formuliert, ist eine der Stärken des Buches: man wähnt die Leute reden zu hören!

Bis zu diesem Punkt ist das Buch ein Stück Sozialgeschichte, das die „unterbäuerlichen Schichten“ in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, die ca. ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, aber am äußersten Rand der Gesellschaft standen und nur marginal wahrgenommen wurden, wie Bezirksheimatpfleger Dr. Peter Fassl in seinem Nachwort schreibt. Von besonderer Bedeutung bei der Erforschung der Lebenswelt dieser Menschen – Knechte und Mägde, Tagelöhner, arbeitende Kinder – ist, wie Lydia Kron-Treus Buch eindrucksvoll belegt, die Befragung der Zeitzeugen: die Geschichte dieser „Namen- und Bedeutungslosen“ außerhalb der großen „Welt“-Geschichte läßt sich oft nur auf diese Art und Weise vor dem Vergessen retten.

 Der weitere Verlauf der Erzählung beschreibt das Schicksal zweier Verwandter der Autorin, die beide dem „Euthanasie-Programm“ der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Und deutlich wird: man kann das Andenken an die Opfer, so viele Jahre nach ihrem furchtbaren Tod, nur vor dem Vergessen bewahren, indem man das Grauen hinter abstrakten Zahlenkolonnen hervorholt, es recht eigentlich erst wieder „grauenvoll“ macht; mit anderen Worten: indem man den Opfern Namen gibt! Im Falle Lydia Kron-Treus sind die Namen „Albert“ und „Maria“. Albert war der Vater ihrer Halbschwester Margarete; und obwohl ihre Mutter Mina vergewaltigt worden war, und obwohl Margarete die Krankheit ihres Vaters geerbt hatte, hat Mina ihre Tochter zeitlebens geliebt und unter der Trennung von ihr – sie lebte später in verschiedenen Pflegeheimen – gelitten. Vor den Nazis hat sie Margarete gerettet! Denn sie wußte wie viele andere genau, was mit kranken und behinderten Menschen geschah oder geschehen konnte: Maria, die Tochter ihres späteren Mannes (und damit die Halbschwester väterlicherseits der Autorin) war seit Jahren unheilbar an Gelenkrheuma erkrankt und aufgrund ihres Zustands depressiv. Der Vater hatte noch versucht, seine Tochter zu retten, indem er sie aus der Klinik nach Hause holte – denn in den Krankenhäusern wurden die „aussichtslosen“ und nur „kostenträchtigen“ Fälle „abgespritzt“; aber die Kranke bzw. ihr Aufenthaltsort wurden denunziert; Maria wird abgeholt und „weggeräumt“ (sie stirbt Anfang 1942). Albert, Margaretes Vater, stirbt am 6. Mai 1945 in Kaufbeuren, nachdem man ihn ab 1944 auf „Entzugskost“ gesetzt, d. h. mit wenigen Löffeln Gemüse pro Tag (!) „ernährt“, mit anderen Worten: in Etappen umgebracht, hatte. Lydia Kron-Treus Buch ist ein wichtiges Buch, weil es uns zeigt, daß manche Geschehnisse lange vergangen sein mögen – „vorbei“ sind sie nie! Und es ist auch ein sehr aktuelles Buch: gibt es nicht auch heute Auffassungen, die – vor dem Hintergrund der sogenannten „Altenschwemme“ zum Beispiel – darauf pochen, die Umstände ausschließlich nach dem zu beurteilen, was der Kostenfaktor „nahelegt“?

Kron-Treu, Lydia, Menschen im Ries. Eine Familiengeschichte in Zeiten der Unmenschlichkeit.

Literareon / Herbert Utz Verlag, München 2007.

ISBN 978-3-8316-1332-8, 312 Seiten, € 19,80

veröffentlicht im Januar 2008 in der Augsburger Allgemeinen