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Konrad Hummel

Konrad Hummel, Zeichnungen – Bilder

(Rede zur Ausstellungseröffnung in der Atelier Galerie Oberländer, 2002)

Unter den vielen Assoziationen und Bedeutungszusammenhängen, die sich bei mir bei der intensiven und sorgfältigen inneren, geistigen Zwiesprache mit den Bildern Konrad Hummels einstellten, war ein Gedanke, oder besser eine Erinnerung, welche ich nicht sofort genau zu erfassen vermochte; erst eine geraume Zeit später hat sie wieder Gestalt angenommen: „Vor dem Meere, dem Land und dem alles deckenden Himmel / Zeigte Natur in der ganzen Welt ein einziges Antlitz. / Chaos ward es benannt: eine rohe, gestaltlose Masse / Nichts als träges Gewicht und, uneins untereinander / Keime der Dinge, zusammengehäuft in wirrem Gemenge.“

Mit diesen Zeilen beginnt der Dichter Ovid das Erste Buch seiner Metamorphosen. - Was aber, mag man jetzt sofort fragen, hat das „Chaos“ mit Hummels Bildern zu tun? In den oben genannten Zeilen wird ein Zustand der Unbestimmtheit, der Unordnung beschrieben, der dem Kosmos der geordneten, geformten und in erkennbare Einzeldinge geteilten Welt vorausgeht. Nichtsdestoweniger trägt die Natur im Chaos die Keime der Dinge, wenn auch heillos wirr, bereits in sich; mit anderen Worten, substantiell ist alles immer da, auch der Kosmos, auch die Ordnung; auf jeden Fall ist sie möglich und das Chaos potentiell auch Kosmos. Betrachtet man nun diese Ausgangslage eingehend, wird auch folgendes offenkundig: das Chaos beinhaltet Ordnung, aber es beinhaltet nicht „die“ Ordnung, sondern es sind vielmehr verschiedene mögliche Ordnungen enthalten, je nachdem wie die Elemente der Ursubstanz kombiniert werden.

Seit alters erforscht nun bekanntlich der Mensch die ihn umgebende Welt, letztendlich mit dem Ziel, dem ihr zugrundeliegenden System auf den Grund zu kommen; darauf hofft er, ob er sich dessen nun bewußt ist oder nicht. Das lange Zeit beherrschende Instrument der forschenden Suche war die rationale Vernunft, vieles hat sie auch entdeckt und einem System bzw. einer Ordnung eingefügt, vieles hat sie entmystifiziert und von seinen ehemals schauerlichen und beängstigenden Konnotationen befreit. Nur war der Preis sehr hoch: sowohl Geschichtsschreibung als auch Kultursoziologie (Habermas z. B.) haben darauf hingewiesen, daß bereits seit dem 18. Jh. der Verlust vor allem religiöser Sinngarantien einen modernen „unbehausten“, wie es damals schon bezeichnet worden ist, Menschen hinterließ, der versuchen mußte, sich die Welt wieder heimisch einzurichten und ihr einen Sinn zu geben. Die Vernunft hat nach Habermas eine Leere hinterlassen, die sie mit sich selbst auszufüllen bestrebt gewesen sei. Daß der Rationalismus uns heute in vielen Bereichen auf einen Weg gebracht hat, den die Menschen eher als Irrweg denn als Fortschritt empfinden, ist hinreichend bekannt; auch konnten und können manche Menschen der rasenden Entwicklung gar nicht mehr folgen und werden soz. zurückgelassen. Werteverlust und der Zweifel am Sinn der modernen Existenz prägen die Stimmung.

An dieser Stelle schließt sich jetzt der Kreis zu Konrad Hummels Bildern: auch ihm ist dieser Zweifel keineswegs fremd; aber er stellt sich ihm, er läßt ihn zu und nimmt ihn als Aufgabe an und wahr. In seinen überaus vielschichtigen Bildern sind, wie im oben erwähnten Ovid’schen Chaos, alle Elemente einer Weltordnung, eines Weltenbaus, vorhanden - und bei genauer Betrachtung auch sichtbar. Dabei erhebt er nicht den Anspruch, den richtigen oder einzigen Weg zur einzigen oder richtigen Ordnung zu kennen – im Gegenteil sind die Bilder durch eine ausgesprochene Ambivalenz geprägt, die man auch mit dem Begriff „Zeitlosigkeit“ bezeichnen könnte: wellenartige oder schlangenförmige Strukturen erlauben die Assoziation mit der biblischen Schlange ebenso wie diejenige mit einem DNS-Strang; Rundungen lassen sich als eine Art Raketentriebwerk genau so interpretieren wie sie der Öffnung einer der Posaunen von Jericho ähnlich sind; die bestimmt weitreichendste Mehrdeutigkeit kommt jedoch den menschlichen – oder menschlich anmutenden – Figuren zu: sie transzendieren zwischen Aktion und Passion, positionieren sie oder sind sie positionierbar, einer Schachfigur gleich; sie wirken oft seltsam starr, wenn nicht gar wie Marmorstatuen oder versteinert – der Mensch als „lebendes Fossil“. Aber wie gesagt: Konrad Hummel kennt das Zweifeln, aber er akzeptiert es nicht als endgültiges Verdikt: er stellt sich der Anforderung und beginnt, im „chaotischen Vorrat“ sozusagen seiner Elemente, suchend zu ordnen und zu bauen. Er kombiniert, er schafft Strukturen, zerbricht sie wieder, wo sie augenscheinlich versagen oder ihm Zweifel an der Richtigkeit des gerade abgeschlossenen Arbeitsschrittes kommen, er arbeitet an der Behebung von Störungen und Brüchen, die von außen kommen - man kann eigentlich sagen, er „montiert“ ein System aus Komponenten, Paradigmen und Ideen. Seine Bilder sind die vollständige, vor allem aber ehrliche Dokumentation dieser „Montage“, dieses immer wieder neuen und manchmal auch vergeblichen Versuches, dem „Chaos“ eine der darin enthaltenen Ordnungen abzutrotzen. Der Künstler steht zu seinem Versuch und der damit verbundenen Möglichkeit sowohl des Irrtums als auch des Irrweges. Die Ordnungs-Strukturen des Konrad Hummel sind wie jede Ordnung potentiell instabil; ein oft wiederkehrendes Element ist die Schräge oder schiefe Ebene, die das drohende Abrutschen der Welt über den äußersten Rand des „Weltenendes“ impliziert. Dennoch geht Hummel mit stetem Beharrungsvermögen an die Aufgabe, die er sich selbst gestellt hat: die Vernunft und den von ihr begründeten Rationalismus auf das zurückzuführen, was sie ursprünglich waren und auch sein sollten: nämlich ein Mittel zu dem Zweck, die Welt und Umwelt des Menschen zu untersuchen und zu erfragen, um den Menschen wieder in ihr heimisch zu machen. Das Mittel zum Zweck, wohlgemerkt, und nicht der Zweck selbst!

Vieles in der heutigen Zeit kann man realistischerweise nicht so einfach umordnen oder umstrukturieren. Aber deshalb muß man, wie Konrad Hummel in einem von ihm selbst verfaßten Text sinngemäß sagt, nicht automatisch und für alle Zeiten wollen, was man nicht oder momentan nicht völlig verändern kann. Man kann über Veränderung und Neuordnung nachdenken, und man kann, wie Konrad Hummel in seinen Bildern, einfach einmal mit einem Versuch beginnen – und schon allein dadurch, durch die Berufung auf bzw. die Nutzung der dem Menschen eigenen Freiheit des Geistes, einen wenn auch kleinen Teil des Chaos in Kosmos verwandeln.


*1955 in Göppingen
1975 – 1980 Studium an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
1976 – 1979 Studium Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart

LEHRTÄTIGKEIT
2002 – 2003 Lehrauftrag an der Burg Giebichstein | Hochschule für Kunst und Design, Halle
2004 – 2005 Lehrauftrag an der Philipps-Universität Marburg
2005 Lehrauftrag an der Universität Marburg
2007 Vertretungsprofessur an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart

MITGLIEDSCHAFTEN
Künstlerbund Baden-Württemberg Mitglied Neue Gruppe München Verein Düsseldorfer Künstler

AUSZEICHNUNGEN
1978 Preisträger „Grafik unserer Zeit“, Frankfurt
1980 1. Preis, Jugendpreis Ulm
1982 Stipendium der Stadt Göppingen
1984 Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg
1987 Förderpreis der Großen Kunstausstellung Düsseldorf
1990 Stipendium Künstlerbahnhof Ebernburg
1992 1. Preis Kunstpreis der Stadt Neuenburg am Rhein
2001 Stipendium der Stadt Wertingen
2003 Stipendium Cité Internationale des Arts, Paris
2004 Prix du Jury, Ministère de la Culture, Luxembourg