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Reinhard Frick

Il colore del garofano

Bereits bei der ersten Begegnung mit den Bildern von Reinhard Frick ersteht vor dem geistigen Auge eine Assoziation, allumfassend und wirkungsmächtig: „Dianthus carthusianorum“. – Was hat dieser Begriff hier zu suchen, mag jetzt gefragt werden; angeblich ging es hier um Kunst ...? Handelt es sich demzufolge um eine Übersetzung der oben angeführten Überschrift, eventuell um den Titel einer Werkreihe des Künstlers Reinhard Frick?

Nichts dergleichen: „Dianthus carthusianorum“ ist die botanische Bezeichnung für die Karthäuser-Nelke, deren Blütenfarbe, in all ihren mannigfaltigen Abstufungen, Tönungen und Schattierungen, eine Ahnung und Annäherung vermittelt an diejenige Farbe, in der und von der Reinhard Fricks Bilder leben. Läßt sich der Betrachter weiter ein auf die Werke,läßt er geschehen, daß ihre Aura ihn umfängt, so führt ihn sein Lustwandeln im Geiste auf einen Spaziergang durch einen Garten der Phantasie. Unendlich sind die Farben der Nelken; ein deutscher Text aus dem 18. Jahrhundert versucht, die Woge der Blütenfarbe mit Worten zu beschreiben: weiß, leibfarben, fleischfarben, lichtrot, blaßrot, von der Farbe der Heckenrosen, rosenfarben, Purpur, Nacarat, Columbin, hochrot, braunrot, zinnoberrot, karminrot. – Der Betrachter, vom Farbrausch erfüllt und erschöpft, greift vielleicht zum Fachlexikon, um zu erfahren, daß „Nacarat“ ein „Orangerot“ bedeuten kann, und „Columbin“ wahrscheinlich von „geranium columbinum“ herrührt, von der Wildblume Storchenschnabel also; in jedem Falle jedoch erkennt er, aus welchem Grund (so wie zum Beispiel in der englischen Sprache) die Farbbezeichnung zum Synonym für die Pflanze zu werden vermag. Schreitet der Betrachter fort auf den Pfaden der Frick’schen Bildergärten, so wird er gewahr, daß es nicht allein die (Blüten-)Farbe gewesen ist, die ihn zum „Garten“ geführt hat.

Johann Wolfgang von Goethe formuliert in einem Gedicht von 1798 wie folgt: „Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung dieses Blumengewühls über den Garten umher … Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern … Also prangt die Natur in hoher, voller Erscheinung, und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft. Immer staunst du aufs neue, sobald sich am Stengel die Blume über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.“ „Metamorphose der Pflanzen“ heißt das Gedicht; und es gibt uns in mancherlei Hinsicht Wegweisung für das Verständnis von Fricks Werken: Es geht um das Vegetabile, und um Verwandlung! Betrachtet man die Wesenheiten auf den Bildern, so kommt man zwangsläufig zu der Frage, was sie eigentlich darstellten, genauer, was wohl ihre Natur sei? Sind sie männlich, weiblich, androgyn, oder handelt es sich um „Wesen ohne Art“? – wobei der Terminus „Art“ hier als „Spezies“ zu verstehen ist, welcher ein Lebewesen zugeordnet, unter der es klassifiziert werden kann. Manchmal scheinen die Wesen, zumindest auf den ersten Blick, identifizierbar: wir meinen eine Katze zu sehen,einen Elefanten, eine Sphinx – letztere per definitionem ein „Mischwesen“ aus Mensch und Tier, „metamorphe“ Wesen, könnte man auch formulieren.

Grundsätzlich jedoch erfolgt in der Zwiesprache mit den Bildern zunächst eine Rückführung zum Wesen und Prinzip des Pflanzlichen. Die intensive Wirkungsmacht der Blütenfarbe wurde bereits erkannt und gewürdigt. Und wenn der Künstler sein Arbeiten unter anderem mit der Metapher des Quellwassers beschreibt, das aus ihm herausströme, so kann man ebenso sagen, auf das Vegetabile verweisend, es handle sich um eine Eruption von Blütenstaub, und somit von Lebensenergie. Die Wesenheiten stehen vielfach wie auf einem Bein, wie ein Flamingo – das Animalische drängt sich wieder hinzu! –, können aber auch als „Pflanzenstengel“ interpretiert werden. Wir sehen uns also – zusammenfassend – konfrontiert mit „Menschen mit vegetabilen Elementen“, oder mit „Tieren mit menschlichen Beinen“, oder mit „Pflanzen“, aus deren Knospen uns ein Antlitz mit großen Augen anblickt. Der Künstler, so empfinden wir es, scheint Myriaden von Meilen durch eine „innere Landschaft“ (eine Anleihe bei dem Dichter John Burnside) gewandelt zu sein, um Wesenheiten zu sehen, deren Anblick uns versagt bliebe, hätten wir seine Bilder nicht.

Einer Antwort bedarf nun die Frage, was bei Reinhard Fricks Bildern sich quasi permanent in was verwandelt, und warum; bescheidener formuliert: des Versuchs einer Antwort. An dieser Stelle ist auf die „Metamorphose“ zurückzukommen, die bereits im Titel von Goethes Gedicht Erwähnung fand. Der Philosoph Andreas Dorschel gibt in seiner 2009 publizierten Schrift „Verwandlung“, die er mit Erörterungen über die Ovid’schen „Metamorphosen“ [sic!] beginnt und mit Thesen zu den möglichen Folgen gentechnischer Eingriffe beschließt, einige wesentliche Hinweise zum Thema. Einen elementaren Unterschied macht er gleich zu Anfang namhaft: in der deutschen Sprache (und nicht nur dort) verändert man sich – aber man wird verwandelt. Bedeutet, das erstere tut man vielleicht nicht völlig freiwillig (die sogenannten „Sachzwänge“ lassen grüßen), aber man tut es überwiegend bewußt und kann es beeinflussen. Das letztere geschieht einem, es trifft einen, man erleidet es, muß zumindest die Folgen tragen. Mit den Worten Dorschels: „Nirgends ist Verwandlung die reine Wonne; zu viel steht jeweils auf dem Spiel.“ Und an anderer Stelle: „Verwandlung läßt entrinnen; aber der Ort des Entrinnens kann sich seinerseits als Falle erweisen.“ Ein Lebewesen kann also durch einen Wandel seiner Gestalt oder Spezies einer Bestimmung entkommen, um in der anderen „neuen“ gefangen zu sein.

Nun ist aber das Bestreben, etwas Bestehendem entrinnen zu können, vor allem, je mehr man dieses als einengend empfindet, ein essentieller Bestimmungsfaktor menschlicher Existenz. Gleichermaßen und gleichzeitig sehnt der Mensch sich nach Kontinuität und Beständigkeit; es handelt sich hierbei um eine intrahumane Polarität, um die Gegensätzlichkeit des Menschen zu sich selbst. – Dorschel schreibt: „Verwandlung ist diejenige Veränderung, in welcher, jäh oder allmählich, eine Figur neue Gestalt annimmt. Eine Kultur, die vom Selbst und von Identität besessen ist, träumt, irgendwann einmal: Verwandlung. Sie verspricht das Wunder, sich selbst zu entkommen und doch derselbe zu bleiben. Verwandlung ist eine Offerte an die Wunschträume der Menschen.“ Und hiermit sind wir zurück, bei Reinhard Fricks phantastischen Gärten mit der Mannigfaltigkeit ihrer phantastischen Wesenheiten. Sie erfüllen einen unserer tiefsten Wunschträume, und einen wohl zumeist uneingestandenen: wie in der griechischen und römischen Dichtung, so auch der Philosoph, mischen sich … Mensch, Tier, Pflanze und Gott – und dies mit einer völligen, quasi natürlichen Selbstverständlichkeit, möchte man hinzufügen. Der Künstler ersinnt eine Welt, sein Imaginieren befördert unser, der Betrachter, eigenes Denken über die Welt. Und dabei läßt Reinhard Frick auch das eher Unangenehme gelten; all dasjenige, was man unter dem oben eingeführten Begriff der „Polarität“, des einen im andern, subsumieren kann.

In seinem Werk findet sich das Abstruse der Verwandlung, die Lächerlichkeit dessen, was dabei „schief gegangen“ ist, und die Traurigkeit, eben nicht entrinnen zu können. Die Intensität des Blicks seiner Pflanzenwesen berührt, seiner vegetabilen Wesenheiten, die so große Augen besitzen, daß ihnen nichts entgehen kann – und die umso mehr Trauer darüber empfinden, an einem Ort verwurzelt zu sein. Ihre Unbeweglichkeit sei die Demütigung der Pflanze, konstatiert der Dichter. Durch seine Beharrlichkeit, Lebendiges in allen möglichen (oder phantastischen, aber nicht bewiesenermaßen nicht-existenten) Ausformungen darzustellen, zwingt uns der Künstler, unsere eigenen moralischen und ästhetischen Wertvorstellungen zu hinterfragen: worin besteht unser eigentliches Problem mit der Verwandlung? – Keinesfalls liegt es in Reinhard Fricks Bildern begründet, sondern vielmehr in denjenigen, die wir uns von anderen Menschen gemacht haben, oder nach wie vor machen: und der Betreffende – besser: der Betroffene! – erdreistet sich, diesem Bilde nicht zu entsprechen. Dies wirkt auf sein Gegenüber befremdend. Uns mit derlei Erfahrungen auseinandersetzen zu müssen, haben wir auch den Bildern Fricks zu verdanken.

Der Künstler zahlt keinen geringen Preis dafür: Voraussetzung seines Schaffens, seiner umfassenden Sicht auf die Mannigfaltigkeit, auf die Metamorphosen der lebendigen Wesen und Arten, ist das methodische Prinzip der Autopsie: selbst sehen, um zu sehen, wie man selbst ist. Ausschließlich der analytische, der gnadenlose Blick in sein Inneres, befähigt und legitimiert ihn, andere (und anderes) ebenso „sezierend“ zu betrachten, und das Geschaute den Betrachtern seiner Bilder vor Augen zu stellen. Dies hat zu tun mit einem tief empfundenen Bedürfnis, die Wahrheit ans Licht zu bringen: sich selbst zu sehen, und das Wahrgenommene zu akzeptieren, ist jedenfalls eine Form von Wahrheit – von Aufrichtigkeit auch, und sie verdient unseren Respekt, künstlerisch wie menschlich. Der Abschluß der Ausführungen gebührt dem meines Erachtens nach Wesentlichen, dem, was das Essentium der Frick‘schen Bildwerke ausmacht, ihre Natur, ihr Sein: es ist die Blütenfarbe, der Blütenrausch, das Prangen in der Farbe der Nelke, welches uns umfängt. Die Farbe der Nelke erstrahlt wie die Sonne am Morgen, sie entzündet den Tag, gießt Wärme aus, sie leuchtet, glänzt und strahlt. Sie duftet, und der Duft ist ihre Seele. Wir spazieren im Garten unserer Phantasie; ich wandle im Geiste, also existiere ich.

Der koreanische Lyriker Ko Un hat ein Gedicht über den „Morgen“ verfaßt; darin heißt es: „Ich mag nicht gegen die strenge Kälte verlieren.“ Denn: wie wollte man, wenn man aufgibt, nur „eine einzige Nelke zum Blühen bringen?“

Bei Reinhard Frick blühen alle Nelken!

Was wir wissen, entspricht nie ganz der Summe dessen, was wir vorfinden …

John Burnside, Nach Lukrez IV (Auszug)

Existieren heißt sich unterscheiden.

(Gabriel Tarde, Monadologie et sociologie, 1893)

Bild von Franz Baumgartner

Literatur

Dorschel, Andreas, Verwandlung. Mythologische Ansichten, technologische Absichten, Neue Studien zur Philosophie Bd. 22, Göttingen 2009

Mersch, Dieter, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002

Serres, Michel, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, übersetzt von Michael Bischoff, stw Bd. 1389, Frankfurt am Main 1998 (erstmals 1985)

Artikel „Veränderung“, in: Zedler, Johann Heinrich, Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 47, Leipzig und Halle 1746, Spalten 25 bis 34 Artikel „Verwandelung“, in: Zedler, Johann Heinrich, Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 48, Leipzig und Halle 1746, Spalten 129 bis 138