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„Bilder als Spuren“ – „Die Spuren der Bilder“

zu Georg Bernhard

 

„Die Wahrnehmung bedarf immer der Universalien. Wir könnten die anderen nicht wahrnehmen und wiedererkennen, wenn wir nicht das Wesentliche herausfinden und vom Zufälligen trennen könnten.“ Dies schreibt der Kunsttheoretiker Ernst Gombrich in einem seiner Essays, die sich mit dem Thema der Ähnlichkeit in der Porträtmalerei beschäftigen, und dabei die prinzipielle Fragestellung nach der Identität des (dargestellten) Individuums und nach den Bedingungen von deren Wiedererkennbarkeit – auch nach langer Zeit und nach den durch die Zeit bewirkten Veränderungen – aufwirft.

Dieser Begriff des „Wiedererkennens“ eröffnet auch einen Zugang zu den jüngsten, überwiegend 2004 und Anfang 2005 entstandenen Arbeiten Georg Bernhards.

Unverkennbar präsentieren sich dem Betrachter Köpfe, die nach berühmten Vorlagen aus der Renaissance entstanden sind; so zum Beispiel der „Kopf“ nach dem Porträt des Federico da Montefeltro von Piero della Francesca. Die von Piero durchaus ungeschönt wiedergegebenen individuellen Gesichtszüge des Herzogs von Urbino fehlen bei Bernhard, Erkennungsmerkmale sind Form und Kontur der Kopfbedeckung, sowie die markante Form der Nase.

Man kann jetzt fragen: sind dies die Spuren, die Piero gelegt hat, und die Bernhard aufspürt bzw. denen er nachspürt – und wenn, wie geht er dabei vor? Bei intensiverer Betrachtung wird sichtbar, daß Bernhard das bei Piero vorhandene individuelle Antlitz verfremdet, indem er eine Art Schablone entwirft, welche den Herzog zeichnerisch auf das Wesentliche reduziert, auf jene Unterscheidungsmerkmale nämlich, die bei der dargestellten Person von der Norm abweichen – eben die Hakennase und die Kontur – und sie gerade deshalb unverwechselbar machen. Der begnadete Zeichner Bernhard hat unmittelbar erfaßt, daß wir – so umschreibt es Gombrich – nicht für die Wahrnehmung des Ähnlichen, sondern ursprünglich für die des Unähnlichen programmiert seien, für die „Abweichung von der Norm, die … im Geist haften bleibt.“ Ist nun diese Reduktion auf das Wesentliche abgeschlossen, bleibt es der zeichnerischen Virtuosität Bernhards vorbehalten, den Dargestellten im Anschluß daran erneut zu individualisieren: die Punktstruktur des Umrisses, wie in Metall geprägt, verleiht einen substantiellen Eindruck von Körperlichkeit und Präsenz; während die geometrische Struktur der exakt konzentrischen Kreise, zu deren innerstem die Kontur die Tangente darstellt, einerseits Bernhards Verbundenheit zur Renaissance und deren Proportionslehren verkörpern mag, andererseits jedoch das Fenster zu dem geistigen Raum und der Epoche hinter dem Dargestellten öffnet; mit anderen Worten: die verschiedenen Ebenen der Zeit, die Bernhard in und mit seinen Renaissance-Köpfen transzendiert, deutlich macht.

Wurde bisher die Arbeit des Künstlers am Beispiel eines (Porträt-)Kopfes erläutert, so finden sich wesentliche Bestimmungsfaktoren seines Schaffens auch in den Darstellungen der menschlichen Figur als ganzer Körper – als stellvertretende Beispiele seien hier genannt das „Urteil des Paris“ (2004/8), sowie „David und Goliath“ (6/2004).

Im „Urteil des Paris“ Georg Bernhards – in der Renaissance finden sich verschiedenste Darstellungen dieses Motivs, unter anderem bei Lucas Cranach – stehen die drei Göttinnen nebeneinander, eine gewisse Transparenz eignet noch ihren Gestalten, die sich gerade erst als für uns Irdische wahrnehmbar zu materialisieren scheinen. Zu identifizieren sind sie bei Bernhard allenfalls als „Kollektiv“, weil eine von ihnen den von Paris überreichten Preis in der Hand hält. Die in der Renaissance üblichen individuellen Attribute der Göttinnen fehlen bei Bernhard – ihm ist etwas anderes wichtig.

In jüngster Zeit, so formulierte er selbst unlängst in einem Atelier-Gespräch, interessiere ihn die „Serie“; er habe einige der Renaissance-Köpfe als Schablone hergestellt, die er dann in „jeder Richtung“ bzw. „Ausrichtung“ auf das Papier bzw. die Leinwand bringe. Nun wurde oben, in den Ausführungen über Bernhards Kopf nach Piero della Francesca, sein Begriff der „Schablone“ bereits thematisiert – an den erwähnten Bildern der Figuren des ganzen Körpers wird noch ein Weiteres deutlich: wie die Köpfe durch die Schablone zum einen, so erfahren des weiteren durch zeichnerische Mittel – nämlich das Überlagern und Aufeinanderlegen von Umrißlinien – diese Figuren eine Vervielfältigung.

Man kann den Begriff der Vervielfältigung unterschiedlich assoziieren, sowohl negativ als auch positiv; er beinhaltet eine simple Multiplikation von Existenz – wie Klonen – ebenso wie die Variation und eine prozessuale Weiterentwicklung und Vervollkommnung in diesem Fortschreiten. Um welche Art nun der „Vervielfältigung“ geht es Georg Bernhard, wenn er den drei Göttinnen im Urteil des Paris eine vierte hinzufügt, und wenn er die Darstellung Davids und Goliaths um einen weiteren David ergänzt, der plötzlich maßstabsgetreu auf die Dimensionen des Goliath vergrößert erscheint?

Meines Erachtens besteht die Essenz dieser beschriebenen Werke Bernhards in etwas, das man bezeichnen könnte als „Vielfalt des Gleichen“, oder aber als Ähnlichkeit, welche dennoch nie absolut identisch wird. Georg Bernhard spürt, seinen eigenen Worten zufolge, der „ganzheitlichen Figur“ nach, worunter er auch deren „Innenleben“ verstehe. Dies wird im Urteil des Paris in der Figur der „vierten Göttin“ unmittelbar deutlich: diese ist im wahrsten Sinne des Wortes „durchleuchtet“, man erkennt die Struktur des Skeletts, Blutbahnen und Nervenstränge – mit anderen Worten: sichtbar wird der „Lebens-Nerv“, das Leben als solches. Bei David und Goliath wird dieses Prinzip des Lebens weniger durch die – zwar auch vorhandene – innerkörperliche Struktur symbolisiert, sondern durch die Aufhebung des Größenverhältnisses, so wie der Betrachter es üblicherweise erwarten würde: der Riese Goliath gegen den jungen Hirten David. Statt dessen wird kleine David, der wie zurückweichend und vor der eigenen Kraft und Größe erschrocken wirkt, „vervielfältigt“ und in einer dem Goliath ebenbürtigen Figur diesem gegenübergestellt. Die Kraft des Geistes, die Wendung zum Unerwarteten – auch dies Bestimmungsfaktoren des menschlichen Daseins, denen Georg Bernhard Gestalt verleiht.

Georg Bernhard zeigt uns dieses Leben in seinen verschiedensten Erscheinungsformen; wir erkennen es aufgrund der von ihm als wesentlich erfaßten Merkmale immer wieder – das Leben sieht sich selbst ähnlich! – und sind doch erstaunt, welche Vielfalt und welcher Abwechslungsreichtum in dieser – vielleicht: trotz dieser? – Wiedererkennbarkeit uns begegnen.

Georg Bernhards Bilder spiegeln die Vielfalt der Welt – der vergangenen Welt der Renaissance ebenso wie derjenigen, in der wir jetzt leben. Daß wir dies zu erkennen vermögen, verdanken wir seiner Zeichenkunst: er, der Zeichner, wandelt für uns auf den Spuren vergangenen Lebens, welches in Bildern in unsere Zeit gelangt ist. Er wählt für uns aus, was wesentlich und was kontinuierlich ist, was bereits in der Vergangenheit Gültigkeit besaß. Er umgibt es mit so vielen Umrißlinien – immer wieder –, bis ein Moment im Ablauf der Zeiten kristallisiert, mit anderen Worten: bis sich etwas in ihm selbst ab“zeichnet“, das er fassen und an uns und unsere Zeit weitergeben kann.

 Brigitte Herpich


Literatur:

Gombrich, Ernst H., Maske und Gesicht. Die Wahrnehmung physiognomischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst, in: Gombrich, Ernst H. / Hochberg, Julian / Black, Max, Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1977, S. 10 bis 60.

Georg Bernhard

Georg Bernhard ist ein deutscher Gegenwartskünstler, geboren 1929 in Augsburg. Hier begann sein vielfach ausgezeichnetes Schaffen als Künstler an der Kunstschule und später der Akademie der Bildenden Künste in München. Darauf folgten zahlreiche Stipendien im Ausland und schließlich eine Professur and der Hochschule Augsburg.
Sein Leben als freier Künstler ist seit jeher von aktiver Ausstellungstätigkeit geprägt und wurde unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande, sowie der Ehrenmedaille „Für Augsburg“ geehrt. Werke von Georg Bernhard finden sich in zahlreichen Museen und öffentlichen Gebäuden – vom deutschen Innenministerium, städtischen Sammlungen und Museen, bis hin zu von ihm gestalteten Glasfenstern oder Kircheninnenräumen.
Georg Bernhard lebt und arbeitet in Augsburg und am Ammersee.