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"Ich Selbst" – "Selbst wir"

Der Philosoph Bernhard Waldenfels prägt in seinem Text „Ordnungen des Sichtbaren“ den Begriff des „sehenden Sehens“ – dies bedeutet bei ihm ein Sehen, das nicht bloß wiedererkennt –, und unterscheidet dabei zwei Möglichkeiten: Erstens, Neues zu sehen; und zweitens, auf neuartige Weise zu sehen.

Setzt man sich mit der künstlerischen Arbeit Bettina van Haarens auseinander, so lassen sich mit dieser oben genannten Begrifflichkeit einige wesentliche Bestimmungsfaktoren ihres Schaffens kennzeichnen. Im Zentrum ihrer Bilder steht sehr häufig die lebensgroße menschliche Figur – oft auch als explizit weibliche zu erkennen. Ihrer eigenen Aussage zufolge schafft die Künstlerin fast ausschließlich Selbstbilder; sie thematisiert den eigenen Körper, die eigene Körperlichkeit, und läßt den Betrachter ihrer Bilder partizipieren an der Suche nach dem Selbst. Daß sich der Betrachter dabei vom Begleiter van Haarens, der an ihrer Suche Anteil nimmt, letztendlich emanzipieren und sich seinem eigenen Menschsein stellen muß, bleibt unausweichlich, und ist auch durchaus beabsichtigt – sind es doch Grundbedingungen menschlicher Existenz wie Geburt, Wachstum, Alter und Tod, die immer wieder in den Bildern auftauchen.

Betrachtet man die Arbeit „Gänseordnung“ von 2004 (110 x 80 cm), so kann man das dargestellte Menschenbild zunächst als Greis assoziieren, und zwar aufgrund der Zeichnung der Hände, an welchen der Alterungsprozeß immer ersichtlich wird; auf den zweiten Blick mag es gar der Geist eines Verstorbenen sein, da die Kontur die schattenhafte Gestalt offenkundig „stützen“ muß. Bei der vom Betrachter aus gesehen rechten Hand hat eine Metamorphose vom Menschen zum Tier begonnen, das Tier multipliziert sich zur Herde, eine Herde Gänse weidet auf einer Wiese über den Gräbern oder Gebeinen lange vergangener Generationen.

Ähnlich wie bei der „Gänseordnung“ verhält es sich bei dem Bild „Hyazinthenessen“ (2004, 110 x 80 cm); auch hier dominiert die Ambivalenz: die Frage „Was nährt wen?“, die Blumenzwiebel den Menschen oder dessen Verwesungsprodukte die Pflanze, bleibt bewußt offen. Bettina van Haaren zwingt sich selbst und uns, unsere Vergänglichkeit und unseren Verfall anzuschauen. Die Zeit hinterläßt ihre Zeichen gnadenlos und unerbittlich – Flucht ist nicht möglich, aber eine neue Sichtweise: Das Altern, der körperliche Verfall und am Ende der Tod sind ein Übergang von einer Form der Existenz in die andere, eine Transformation, eine Metamorphose – und Bestandteil des großen Zyklus des Daseins und des ständigen Wandels.

Die Künstlerin bestärkt ihre neuartige Sicht auf mehrfache Art und Weise. Sie gruppiert in ihren Bildern – z. B. handelt es sich in „Anschaukeln“ (2002, 185 x 240 cm), und ebenso in „Leda, narbig“ (2002, 210 x 165 cm), um alte Planschbecken und Schläuche – vermeintlich willkürlich Alltagsgegenstände, die aufgrund fehlender evidenter Funktion als „Abfall“ aufgefaßt werden können. „Abfall“ definiert sich unter anderem dadurch, daß die weggeworfenen Objekte nach landläufiger Meinung zu nichts mehr zu gebrauchen seien – die zynische Anwendbarkeit dieser „Nutzlosigkeit“ auch auf menschlichen „Abfall“ läßt Bettina van Haaren dabei konsequent zu, wenn – wie im Bild „Beugungsversuche“ von 2002/2003 (185 x 240 cm) – die Figur in einen Torso mit Kopf und in zwei Beine mit Füßen zerschnitten und falsch (!) wieder zusammengesetzt ist.

Was heißt hier aber eigentlich „falsch“? Bedeutet es „widernatürlich“, „nicht lebensfähig“ – oder stört es uns nur, weil wir nicht daran gewöhnt sind? Die Künstlerin ermuntert uns zu einer eigenständigen Sichtweise und zur Eigeninitiative. Indem sie weder Räume noch Funktionen strikt vordefiniert, sondern die Körperteile quasi zur „Selbstmontage“ offeriert, wird ihre Leinwand für uns einem Reißbrett vergleichbar, wird uns zur Konstruktionsfläche unserer eigenen (Lebens-)Entwürfe. Es entsteht eine Interaktion zwischen den Intentionen der Malerin und denen bzw. den Erwartungshaltungen der Betrachter. Wir sollen unseren eigenen Weg gehen – einen Hinweis auf den von ihr selbst beschrittenen gibt sie aber: „Abfall“ heißt, wie oben erwähnt, zwar nutzlos sein; dieser „Ausstieg“ jedoch aus dem permanenten Prozeß der Benutzung und Benutzbarkeit kann auch eine Befreiung, eine Emanzipation, bedeuten. Bettina van Haaren schafft hier eine Ästhetik des Unvollkommenen, bei Menschen und bei Dingen.

In dem Werk „Ableitung“ (2003, 185 x 240 cm) bringt sie die Menschen-Figur in Kombination mit teilweise billig wirkenden Gebrauchsgegenständen von eher trivialem Geschmack (die roten Glasschüsseln); dies weckt die Assoziation mit einem Kaufhaus-Ambiente und symbolisiert die Reduzierung aller Objekte – und in letzter Konsequenz auch der Subjekte, das heißt der menschlichen Individuen – auf Waren, auf Konsumgegenstände. Übliche Funktionen, im Falle des Menschen kann man auch formulieren: eingespielte Rollen und Verhaltensmuster, werden hinterfragt und als brüchig entlarvt – die Künstlerin ist sich dabei bewußt, daß Individualität auch zu einem guten Teil in Form der Rollen existiert, die die jeder von uns spielt, mögen sie im Einzelfall noch so einengend sein. Daß die Symbolik des Hauses durch die in Giebelform angeordneten Rohre und eine Decke bzw. ein Tischtuch gestützt wird, trägt bei intensiver Betrachtung nur weiter zur Verfremdung bei: was in einem Haus im Normalfall das Innenleben ausmacht, nämlich Zu- und Ableitungsrohre, bildet hier die äußere Struktur. Die Behausung des Menschen, der uralte Schutzraum, hat den festen – oder den fest geglaubten – Grund unter sich verloren. Erneut hebt Bettina van Haaren hier gewohnte Sichtweisen auf und hinterfragt, was uns als sicher und gegeben erscheint.

Hierbei wendet sie durchgängig eine ihr gänzlich eigenständige Verfahrensweise an, die man mit „Die Überbrückung der Distanz“ umschreiben könnte. Das klassische Schönheitsideal der Antike richtet sich vor allen anderen an das Sinnesorgan Auge, welches die Distanz zwischen Objekt und Betrachter aufrechterhält – das heißt Sehen vor Hören, Tasten, Schmecken und Riechen. Van Haaren bricht diese Distanz auf durch Objekte, die zum Berühren (Gras, Äste) oder „Ersteigen“ (Schaukel) animieren. Der Betrachter steht nicht – und soll nicht stehen – „in Ruhe“ vor dem Bild und schaut, sondern ist in seiner Ganzheit angesprochen – was Bettina van Haaren selbst formuliert, wenn sie sagt, sie erhoffe sich eine „bewegte Wahrnehmung“.

Wenn nun durch die Intensivierung und Sensibilisierung der Wahrnehmung jene Verfremdung beim Betrachter eintritt, die seine gewohnten Sichtweisen hinterfragt, folgt als nächster Schritt die bereits oben im Zusammenhang mit dem Werk „Beugungsversuche“ beschriebene Rekonstruktion oder gar Neukonstruktion seiner Perspektiven. Das Herausragende an Bettina van Haarens Kunst besteht darin, daß das Destruktive gleichzeitig das Konstruktive ist, daß in ihren Bildern der große innere Zusammenhang, der fortwährende Wandel, die ewige Metamorphose, zum Ausdruck kommen.

Das Medium bzw. die Projektionsfläche, derer sie sich dabei bedient – und derer sich zu bedienen sie uns auffordert – ist der eigene Körper. Sie ist dazu bereit, ihr physisches und geistiges individuelles Mensch-Sein von verfremdenden Objekten und Assoziationen okkupieren zu lassen – dies ist nicht frei von der Gefahr, daß Diskrepanzen zwischen Sein und Schein, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Selbst-Bild und Fremd-Auffassung, schonungslos offengelegt werden. Dieses Risiko aber geht Bettina van Haaren ein, denn ihr geht es um die Erweiterung ihres Sichtfeldes, um Erkenntnis und Wahrheit. Welche Rolle dem Körper dabei zukommen kann, umschreibt am besten ein Zitat aus einem der „Denkbilder“ Walter Benjamins: in dem Essay „Bergab“ geht es um einen Wanderer, der beim Abstieg vom Berge aufgrund zunehmender Erschöpfung im wahrsten Sinne des Wortes „durcheinandergeschüttelt“ wird und als Folge der körperlichen Erschütterung eine geistige erlebt. „Sein Körper“, schreibt Benjamin, „ist „ein Kaleidoskop geworden, das ihm bei jedem Schritte wechselnde Figuren der Wahrheit vorführt.“ – Diese „Figuren der Wahrheit“ finden wir wieder auf Bettina van Haarens Bildern, und zum Anfang unserer Erörterungen zurückgehend, sehen wir, erkennen Bekanntes wieder, und sehen neu – unser eigenes „Selbst“ und das unseres Mitmenschen.

Ableitung, Eitempera/OeL auf Leinwand, 2003


Auslegung, Eitempera/OeL auf Leinwand, 2004

Literatur:

Brückner, Wolfgang, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies. Berlin 1966

Waldenfels, Bernhard, Ordnungen des Sichtbaren, in: Boehm, Gottfried (Hrsg.), Was ist ein Bild, München, 3. Auflage 2001 (erstmals 1994), S. 233 bis 252.

Bettina van Haaren ist Malerin, Zeichnerin und Druckgraphikerin.

Ihre figurative Kunst untersucht auf konzeptuelle Weise innere und äußere Wirklichkeiten. Das Werk wurde in fast 90 Einzel- und über 130 Gruppenausstellungen in Europa, USA, Neuseeland, Japan und China gezeigt.

1961 geboren in Krefeld;
1981-1987 Studium der Bildenden Kunst an der Kunsthochschule Mainz (Johannes Gutenberg-Universität) bei Bernd Schwering;
2000 Professur für Zeichnung und Druckgraphik an der Technischen Universität Dortmund;
lebt und arbeitet in Witten und Dortmund.

Preise und Stipendien (seit 2000)
2003 Albert-Stuwe-Preis für Zeichnung;
2013 Einladung zum “International Print-Making Workshop”, Xi´an Academy of Fine Arts, China;
2015 Einladung zum "Elam International Printmaking Workshop", Elam School of Fine Arts, The University of Auckland, New Zealand; die Reise wurde vom DAAD gefördert;
2019 Einladung zur " Global Changan Conference" in Xi´an (China) unter der Schirmherrschaft von Christian Wulff, Bonislaw Komorowski und Ban Ki-Moon.