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Werk von Franz Baumgartner, Am Strand, 2017

Clemens Heinl

Die Präsenz der Körper

Begegnet man den Körper-Plastiken von Clemens Heinl – und der Begriff der „Begegnung“ ist hier sehr bewußt gewählt! –, so sind zwei Eindrücke prägend: zum einen treten seine Menschen-Figuren auf eine Art und Weise in Erscheinung, die derart kraftvoll ist, daß unmittelbar die Betrachtung zur Begegnung wird – mit anderen Worten: daß wir selbst wieder spüren, daß wir „da“ sind, daß wir uns unserer eigenen Existenz erneut, und geradezu körperlich, bewußt werden. Und zum anderen stehen wir einer Erkenntnis gegenüber, die der Literatur- und Kulturwissenschaftler Gert Mattenklott in die Formulierung kleidet: „Der Leib kann nicht lügen“. Im Gegensatz zum „Ich“, so Mattenklott weiter, das mit einer Stimme rede, sei der Leib grundsätzlich „mehrsprachig“, komplex, wenn nicht gar widersprüchlich in seinem Ausdruck. Und auch „das Unterdrückte, Abgewiegelte, Unentwickelte“ bliebe stets sichtbar. Wir wissen alle, was gemeint ist: nicht nur die Körpersprache, die so verräterisch sein kann, sondern die gesamte Körperlichkeit des Menschen, die in der heutigen Zeit in eine tiefgreifende Krise geraten ist: je stärker Massenmedien und Werbeindustrie den „perfekten“ Körper als Kult vorführen, desto mehr erlebt man – da dieses Ideal unerreichbar und der Körper dem Altern und der Vergänglichkeit unterworfen bleibt – eine sich zwischen Ideal und Realität bildende Kluft, ein Unbehagen, welches den Menschen mit seinem als unzulänglich empfundenen Körper, den er nicht verlassen kann, alleine läßt.

Dieser Einsamkeit nun des Menschen mit sich selbst, dieser Leere, begegnet der Künstler Clemens Heinl mit seinen Arbeiten auf einzigartige Weise. Er vermag sie auszufüllen, diese Leere – wessen man sich dadurch bewußt wird, daß man sich in Gegenwart seiner Figuren merklich wohl fühlt, und lebendig. Im folgenden soll versucht werden, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Auch die Körper und Gesichter von Heinls Figuren sind nach den Maßstäben des globalisierten Schönheits-Ideals keineswegs „perfekt“. Leberflecke, Narben und Schrunden sind nicht kaschiert, auch nicht eine unvorteilhaft gewählte Frisur, oder ein wenig Übergewicht. Trotz ihrer Monumentalität wirken sie keineswegs überlegen, sondern eher verletzlich, fragil.

Bei einer Arbeit aus dem Jahre 2004 zu Dantes „Göttlicher Komödie“ – die Schmeichler und Kuppler im 8. Höllenkreise waten im Kot –, sowie bei einer lebensgroßen Figur im „Fegefeuer“, werden existentielle Fragen des menschlichen Daseins sichtbar: die Figuren sind teilweise in sich verdreht, sie strecken sich nach sich selbst aus; ungeklärt bzw. ambivalent bleibt, ob sie sich dabei erreichen und bei sich ankommen können, oder aber ob sie auf der ständigen Flucht vor sich selbst sind – die menschliche Existenz ein circulus vitiosus oder eine in sich ruhende und geschlossene Einheit?

Eine ähnliche Ambivalenz beobachten wir bei einer weiblichen Gestalt: sie steht auf gleich zwei Sockeln. Ist sie sozusagen zweifach geerdet und somit besonders fest im Leben und in der Welt verankert, oder steht sie mit je einem Bein in zwei verschiedenen Welten – wobei auch dies unterschiedlich bewertet werden kann: vielleicht weiß sie nicht, wo sie hingehört; sie mag jedoch ebenso gut eine Mittlerin sein, eine Grenzgängerin zwischen Parallel-Universen. Und noch etwas Wichtiges fällt uns auf: wenn wir bei Clemens Heinls Figuren und Gesichtern auf Details achten, auf Haare, Augenbrauen, Narben oder Muttermale, so bemerken wir, daß diese sowohl zum Gesicht als auch zum Material, zum Holz, gehören können! Man stellt sich die Frage: verarbeitet der Künstler hier ausschließlich von der Natur im Rohstoff geschaffene Merkmale, oder sind diese auch beim menschlichen „Original“ vorhanden? Anders gefragt: Wer imitiert hier wen? Clemens Heinl hebt die klassische Einteilung „Original – Abbild“ auf und thematisiert statt dessen eine Interaktion: der Mensch hat einen Standort in dem natürlichen Raum, der ihn umgibt, wird von diesem geprägt und wirkt seinerseits wieder auf ihn zurück; nicht statisch ist dieses Wirkungsgeflecht, sondern ein fortwährender Prozeß – lebendig eben. Der Mensch und sein Körper werden zum Akteur, sie werden selbst Schauplatz bzw. Ort des Geschehens.

Diese dynamische Auffassung von Materialität wird noch auf eine weitere Art und Weise deutlich: wenn Heinl seine Figuren transportiert, sie an einem Platz im Freien aufstellt, und dort, an exponiertem Standort, der Witterung aussetzt, geschieht es unausweichlich, daß etwas abbricht – ein Rindenteil vom Sockel zum Beispiel –, oder daß ein senkrechter Riß sich auftut, der den Torso komplett spaltet. Die Frage jedoch, ob oder wie solche Spaltungen reparabel seien, stellt sich für den Künstler nicht; für ihn gehören das Material und die ihm innewohnenden Spannungen substantiell, existentiell zur Figur; die Natur des Menschen und die Natur des Materials sind bei ihm gleichberechtigte Bestimmungsfaktoren einer alles umfassenden, größeren natürlichen Ordnung. Die bereits in der Überschrift thematisierte „Präsenz der Körper“ stellt sich in der Interaktion ein, indem sich alle an einem Ort oder in einem Raum anwesenden Körper ihrem Gegenüber stellen, sich für den jeweils anderen empfänglich machen – und dies gilt für den schaffenden, den geschaffenen und den betrachtenden Körper gleichermaßen.

Die handelnden Körper mehrerer Akteure, ihre quasi vervielfältigte Präsenz, bringt uns noch eine weitere Dimension der Vielheit zum Bewußtsein: Heinls Figuren – und wir mit ihnen – agieren körperlich nicht nur als verschiedene Individuen, sondern auch als Individuen mehrfach. Mit unserem Körper stehen wir in der Welt, und nehmen dabei unterschiedliche Funktionen wahr, haben auch unterschiedliche Ansprüche: Arbeit, Freizeit, Kommunikation, alles sowohl im eher privaten Bereich als auch im Blickfeld der Öffentlichkeit. Immer öfter geraten wir aber – wie oben bereits einmal erwähnt – in der Folge einer durch die mediale Welt beeinflußten Sichtweise in einen eklatanten Widerspruch zu unserer eigenen Körperlichkeit, welcher nur noch verstärkt wird durch den immer schnelleren Wechsel der medial präsenten „idealen“ Körper – sie sind ersetzbar, unser leiblicher Körper ist es nicht. In dieser Widersprüchlichkeit nun begegnet uns Clemens Heinl mit seinen Figuren und Gesichtern und schenkt uns die – im buchstäblichen Sinne! – „Verkörperung“ eines beinahe in Vergessenheit geratenen Seh-Erlebnisses: mit Erstaunen nehmen wir zur Kenntnis, daß uns der Künstler völlig normale Menschen zeigt – und dieses Erstaunen wächst noch, denn wir bemerken: das reicht ja völlig aus! Ein jeder der Gezeigten ist ein Mikro-Kosmos für sich; all die Gesichter sind nicht schön, aber sie haben Charakter. Anders formuliert: Heinl verleiht seinen Figuren überhaupt erst ein Gesicht, er holt sie aus einer nichtssagenden Austauschbarkeit heraus und läßt sie frei – zum Leben.

Kein Geringeres leistet er als sich dem Gesichtsverlust der modernen Welt entgegenzustemmen, welcher ein doppelter ist. Zum einen das soeben beschriebene Schwinden von individuellen, eigentümlichen, auffälligen und nicht „stromlinienförmigen“ Gesichtern. Dann, zum zweiten, etwas Entscheidendes: „Sehen, um zu erkennen, bedeutete einst, die Welt in Ruhe und Gelassenheit zu betrachten“, schreibt Norbert Borrmann in seinem Werk „Kunst und Physiognomik“. Mit dem Verlust der Ruhe bzw. einer ihm angemessenen Lebensgeschwindigkeit erleidet der Mensch in der Tat einen Gesichtsverlust, in der Form einer Verminderung und Verkümmerung der Fähigkeit zu sehen und zu beobachten. Dies führe, so Borrmann weiter, dazu, daß der Mensch verlerne, den Raum zu erleben – und damit, so kann man fortfahren, auch verlernt, seinen Körper und seine Körperlichkeit – welche Raum einnehmen und sich im und über den Raum definieren – zu erleben. Dies bedeutet nichts anderes, als daß der Mensch nicht mehr vermag, raumgreifend und raumübergreifend das Ganze, bzw. Ganzheit überhaupt, zu sehen, sondern er kann nur noch Details wahrnehmen, er verzettelt und verliert sich in Details.

Diese durch den zweifachen Gesichtsverlust bewirkte Vereinzelung des Menschen wirkt dann wiederum auf dessen Umwelt, auf Wahrnehmung und Verhältnis zu ihr, wodurch der Mensch sich immer nur noch mehr verliert und den sich permanent weiter beschleunigenden Lebensläufen ausgeliefert bleibt – ein zyklischer, sich ständig wiederholender und gegenseitig verstärkender Prozeß, ein klassischer circulus vitiosus, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint – es sei denn, die Begegnung mit Figuren und Körpern wie die von Clemens Heinl, die dem Menschen seine Körperlichkeit und seinen Raum zurückzugeben und ihn aufs Neue in der ihn umgebenden Welt, in seinem Umraum, zu verankern vermögen.


Literatur:
Borrmann, Norbert, Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland, Köln 1994
Mattenklott, Gert, Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek bei Hamburg 1982