Kinesis
Die Wesenheit der Bewegung
„Kinesis“ nennt Harry Meyer seine jüngsten, seit 2020 entstandenen Ölgemälde – ein Terminus, der nicht auf Anhieb geläufig sein mag.
Was also bedeutet „Kinesis“? Der Begriff stammt aus dem Alt-Griechischen und heißt „Bewegung“; philosophiehistorisch ist er hauptsächlich im Bezugsrahmen der aristotelischen Physik und Metaphysik sowie deren Auslegung verortet. Der Beweis für die Bewegung als solche wird durch deren Wahrnehmung erbracht – ganz einfach: es gibt sie, als Phänomen. Weit weniger klar ist, was sie eigentlich „ist“ – im aristotelischen Sinne definiert ist Bewegung insbesondere diejenige, welche als eine Veränderung von Form und Stoff gefasst wird. Bewegt oder verändert werden Substanzen, Quantitäten, Qualitäten und der Ort. Bewegen und „bewegt werden“; verändert „werden“; aktiv und passiv – Komplexität scheint auf, simple Erklärungsmuster – offensichtlich Fehlanzeige. Der Betrachter wendet sich, Antwort erheischend, an Harry Meyers Bilder. Zunächst jedoch tauchen noch mehr Fragen auf, allen voran: Warum ist alle Bewegung blau?
Das Blau ist die häufigste Farbe, es beherrscht die Gemälde in all seinen Tönungen und Schattierungen: blauschwarz, blaugrau, blaugrün, blaugolden, hellblau, dunkelblau. Die beiden letztgenannten Bezeichnungen sind wichtig, indem sie mit „hell“ bzw. „dunkel“ auf das „Licht“ verweisen, welches einen wesentlichen Bestimmungsfaktor der Kunst Harry Meyers ausmacht. Das Licht spielt mit und auf seinen Farbflächen, schattiert, modelliert, formt – genau: Bewegung! Die Vertiefung der Bildbetrachtung – wobei die Konnotation der „Tiefe“ hier keineswegs willkürlich ist – führt die Gedanken über das „bewegte Blau“ zu denjenigen Phänomenen der Natur, die am eindrücklichsten mit Blau in Verbindung stehen (und im Übrigen seit Anbeginn seines künstlerischen Schaffens Gegenstand der Auseinandersetzung Harry Meyers mit der Phänomenologie der Natur sind): Wasser, Meer, Himmel.
Die Mannigfaltigkeit möglicher Bewegung und Bewegungsarten überwältigt. Erkennbar werden Strömungen, Wirbel, Strudel, Turbulenzen; es strömt, fließt und strahlt mit geballter Energie und Kraft – und dies gilt gleichermaßen für das Wasser wie für das Licht. „Kinesis“ eröffnet Einsichten und innere Bedeutungs-Zusammenhänge: Licht-Strahl und Wasser-Strahl; strömendes Wasser und Licht, das sich im Verströmen seiner selbst zeigt; Wasser-Wirbel und Wirbel-Sturm, aber auch ein Lichter-Meer und Lichtreflexionen im Wasser – „Kinesis“ bewegt den Betrachter, hält Sinne und Geist buchstäblich „am Laufen“. Und genau hier und jetzt ist Einhalt zu gebieten – dem Lauf, der immer weiter geht, potentiell immer schneller wird, zu schnell möglicherweise, und infolgedessen nicht mehr kontrollierbar, nicht mehr berechenbar ist.
Von Wirbeln und Turbulenzen war vorhin die Rede; man denkt an ein vom rasenden Sturm aufgewühltes Meer, Wellenberge türmen sich, Konturen und Begrenzungen lösen sich auf. Auch wenn der den tobenden Elementen, der Bewegung in ihrer quasi maßlosen Übersteigerung, ausgesetzte Mensch vernünftigerweise weiß, dass dies ein zeitlich begrenztes Phänomen ist und ein Ende nehmen wird, so ergreift ihn dennoch im akuten Geschehen, im Ereignis der äußeren Turbulenz, eine ebensolche innere, ein Aufruhr der Seele, eine Unruhe, die ihr Gegenteil erstrebt. Ein bestimmter Bestandteil der Geistesgeschichte der „Kinesis“ wird bedeutsam: Am Beginn des Denkens findet sich, neben anderem, eine Betrachtung aller Dinge hinsichtlich des Zustandes ihrer Bewegung bzw. Bewegtheit, gefasst in die Zweiheit von Bewegung und Ruhe, wobei das eine jeweils die Abwesenheit des Anderen bedeutet und umgekehrt. Die aristotelische Philosophie, in ihrer Auseinandersetzung mit der „Kinesis“ und ihrem Gegenteil, dem Stillstand („Stasis“), kommt zu der Erkenntnis, dass – vereinfacht zusammengefasst – beide zwar Gegensätze seien, aber nur gemeinsam als Ursprung der Natur gelten könnten und in ihrem Zusammenwirken essentiell bestimmten, was Natur von allen Artefakten unterscheide: Natur wandelt sich, Artefakte werden von äußeren Einwirkungen verändert. Anders formuliert: was sich bewegt, zur Ruhe kommt, und erneut aus sich selbst heraus in Bewegung überzugehen vermag, lebt. Und weder eine ununterbrochene Bewegung, die zum Selbstzweck zu werden droht, noch ein passiver, seine Möglichkeiten ungenutzt lassender Stillstand, sind ideal. Das Dasein muss und kann sich nur im Wandel der Zustände von Bewegung und Nichtbewegung vollständig realisieren.
Wurde vorhin festgestellt, dass das „wildbewegte Blau“ die „Kinesis“-Gemälde von Harry Meyer dominiert, so bestätigt uns der Künstler die oben angeführte Erkenntnis zum Wechsel und Kreislauf von „Kinesis“ und „Stasis“, gerade indem er eine Ausnahme macht: weiße „Kinesis“.
Natürlich denkt der Betrachter zuerst an Schnee und Eis, an Wind und Sturm, an Verwehungen und ihre verkrusteten Strukturen, gefrorene und angehaltene „Kinesis“. Es gibt jedoch eine weitere mögliche Sichtweise: die weiße „Kinesis“ kann für die Meerwasser-Saline stehen. Das konzentrierte „weiße Gold“ des Meeres, kristallin verfestigt, und in dieser Gestalt der ultimative Gegensatz zur permanent bewegten Wasseroberfläche, dem Wellengang mit seinem Rauschen und Toben. Das Meer erscheint geradezu versteinert, zur Erstarrung gebracht, seine Bewegung im Moment äußerster Intensität festgezurrt – wenn auch nur auf einem begrenzten und fest umrissenen Terrain. Die Salinen-Bauern, welche es vorziehen, Salz-Gärtner genannt zu werden und ihre Arbeitsstätten als Salzgärten bezeichnen, kultivieren das Meersalz und bauen es ab. Sie tun dies sorgsam, bedächtig und langsam, voller Achtung und Respekt vor der Materialität des „weißen Goldes“ aus dem Meer. „Kinesis“ und „Stasis“ – Dualismus, keine Gegnerschaft. Harry Meyers „Kinesis“-Gemälde wurden im Verlaufe der vorliegenden Erörterung vornehmlich unter Zuhilfenahme von Begrifflichkeiten aus der antiken Philosophie beschrieben. Nun ist es wohl so, dass die „Welterklärungen“ der „alten Weltweisen“, wie sie des Öfteren genannt zu werden pflegen, mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften nicht mehr ohne Weiteres oder vollständig in Einklang zu bringen sind. Ist das niemandem aufgefallen? Hat man es einfach vergessen? Abgesehen davon, dass eine Art natürlicher Scheu davon abhält, solche Erkenntnisse auch nur als überholt, und schon gar nicht als falsch, zu bezeichnen – die Frage ist obsolet. Was die „alten“ Philosophen erforscht und erkannt haben, ist für uns bedeutsam, weil es uns auffängt, trägt und festhält – in einer Welt, die uns vielfach als aus den Fugen geraten begegnet. Dasselbe erfahren die Betrachter mit Harry Meyers Gemälden. Der Künstler setzt Bewegung, geistige Strömungen, in Bilder um, deren Farben, allen voran das Blau, eben diese Bewegung – wie auch ihr Gegenstück – vergegenständlichen. Die Farbe ereignet sich auf dem Bild.
Harry Meyer verspricht das Blaue vom Himmel herunter und hält sein Versprechen – wahrhaftig.
„Mit meinem Blau male ich Sterne … Aus gleichem Stoff … alles … verwandelt … in Licht in Finsternis …“
(Rose Ausländer)
Literatur:
Kreuzer, Johann, Artikel „Licht“, in: Konersmann, Ralf (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen
Metaphern, 2. Unveränderte Auflage, Darmstadt 2008, S. 207-224
Westphal, Kristin, Artikel „Bewegung“, in: Günzel, Stephan (Hrsg.), Lexikon der Raumphilosophie.
Unter Mitarbeit von Franziska Kümmerling, Darmstadt 2012, S. 54, 55
Artikel „Farbe“, in: Zedler, Johann Heinrich, Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller
Wissenschaften und Künste, Band 9, Leipzig und Halle 1735, Spalten 223-245